Zukunft der Agrarsozialpolitik (Leitartikel)

PETER MEHL

Published: 01.02.2000  〉 Heft 2/2000  〉 Resort: Article  〉  Deutsch
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DOI:
N. A.

ABSTRACT

Im Bundeshaushalt 2000 sind 7 311,5 Mill. DM oder knapp 2/3 des Etats des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML) für die agrarsoziale Sicherung vorgesehen: Auf die Alterssicherung der Landwirte (AdL) entfallen davon 4 146 Mill. DM, auf die landwirtschaftliche Krankenversicherung (LKV) 2 060 Mill. DM und auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung (LUV) 500 Mill. DM an Zuschüssen des Bundes. Verglichen damit nehmen sich die im Einzelplan 10 geplanten Aufwendungen des Bundes für die Gemeinschaftsaufgabe 'Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes' (1 700 Mill. DM) bescheiden aus. Die mittelfristige Finanzplanung bis 2003 signalisiert, dass sich diese Dominanz der Agrarsozialpolitik weiter verstärken wird. Im Oktober des vergangenen Jahres, auf der 40. Jahrestagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus (Gewisola), hat nun Staatssekretär Dr. WILLE erklärt, für die Bundesregierung sei die eigenständige agrarsoziale Sicherung "keine heilige Kuh". Es müsse geprüft werden, wie viel Geld mittel- und langfristig für die Aufrechterhaltung der Alterssicherung sowie der landwirtschaftlichen Kranken- und Unfallversicherung erforderlich sei und ob dieses Geld aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stehe. Sollte dies nicht gewährleistet sein, müsse über eine Änderung des Systems nachgedacht werden. Solche Überlegungen signalisieren, dass die in Zeiten der Haushaltskonsolidierung naheliegende Frage, wo mögliche weitere Einsparpotenziale im Bereich der agrarsozialen Sicherung liegen könnten, nun dahingehend erweitert wird, dass über den Fortbestand des agrarsozialen Sondersystems insgesamt nachgedacht wird.Dieser neue Akzent in der Debatte überrascht etwas, weil mit dem Gesetz zur Reform der agrarsozialen Sicherung (ASRG) 1995 erst vor wenigen Jahren eine tiefgreifende Umgestaltung der landwirtschaftlichen Alterssicherung erfolgt ist. Dabei gelang es, eine Reihe durchaus heterogener Ziele zu bündeln, ohne unüberwindbare Widerstände der Betroffenen zu erzeugen. Mit der Linearisierung der Rentenberechnung und der Abschaffung des Verheirateten-Zuschlags beim Altersgeld sind erhebliche Einschnitte bei den Leistungen erfolgt. Die Beiträge zur AdL werden nunmehr weitgehend nach der Beitrags-/Leistungsrelation der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) festgesetzt. Ausgaben, die nicht durch Beiträge abgedeckt sind, übernimmt der Bund (Defizitdeckung). Weiterhin wurde eine eigenständige Pflichtversicherung des Ehegatten des landwirtschaftlichen Unternehmers eingeführt. Dabei dient eine rückwirkende Anrechnung von Beitragsjahren des Ehemannes als Grundstock für die Rentenansprüche insbesondere der älteren Bäuerinnen. Die Vorausberechnungen der Bundesregierung zur Ausgabenentwicklung der AdL bis 2007 zeigen eine deutliche Abflachung des Ausgabenanstiegs. Eine Übergangsregelung bis 2009 stellt sicher, dass der Wechsel von altem zu neuem Recht gleitend erfolgt. Mit diesem 'Gleitflug', der Übernahme der Defizitdeckung durch den Bund und der erheblichen Ausweitung des Berechtigtenkreises beim Beitragszuschuss, der allerdings neuerdings mit dem Haushaltssanierungsgesetz 1999 wieder teilweise revidiert wurde, wurden die erfolgten Einschnitte abgemildert. Das ASRG 1995 kann mithin als grundlegende und langfristig angelegte Reform gelten. Die anstehende Reform der GRV wird auch die AdL nicht unbeeinflusst lassen. Die Schwerpunkte der laufenden Diskussionen - eigenständige Versicherung der Frauen sowie die Notwendigkeit privater Vorsorge ergänzend zur gesetzlichen Alterssicherung - zeigen jedoch, dass die Alterssicherung der Landwirte durchaus für sich in Anspruch nehmen kann, eine 'moderne' Lösung zu sein.In den anderen Sicherungsbereichen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV) sind vergleichbare grundlegende Umgestaltungen bislang ausgeblieben. Was den Leistungsbereich der landwirtschaftlichen Krankenversicherung anbetrifft, ist dies nachvollziehbar. Dadurch, dass die LKV im Leistungsbereich weitgehend an die übrige Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) angekoppelt ist, ergaben die Kürzungen im Leistungskatalog der GKV im Zuge der diversen Gesundheitsreformgesetze seit 1988 auch in der LKV bereits beträchtliche Einsparungen. Bei der Finanzierung der LKV gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied: Hier kommt der Bund, mit Ausnahme der - allerdings geringen - Eigenbeiträge der Altenteiler, vollständig für die Kosten der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Versicherten und deren Ehegatten auf. Bei den übrigen Trägern der GKV kommen allein die Beitragszahler für die Defizite der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) auf. Da die Defizite der KVdR seit 1972, dem Jahr der Gründung der LKV, absolut und relativ ständig zugenommen haben, hat sich die relative Vorteilhaftigkeit der LKV im intersektoralen Vergleich stetig vergrößert. Daher spricht einiges dafür, einen wesentlichen Grundgedanken des ASRG auf die LKV zu übertragen. Bundesmittel sind nur insoweit zu zahlen, als ein strukturell bedingtes Finanzierungsdefizit der LKV gegenüber den anderen Krankenkassen der GKV auszugleichen ist. Eine diesbezüglich denkbar erscheinende Option bestünde darin, die Bundeszuschüsse an die LKV nach dem Verfahren des Risikostrukturausgleichs in der GKV zu ermitteln. Dieser kassenartübergreifende Risikostrukturausgleich (RSA) stellt jede Krankenkasse so, als habe sie eine durchschnittliche Versichertenstruktur mit durchschnittlichen Beitragseinnahmen und Ausgaben. Eine Kasse wird durch den RSA nicht wegen ihrer schlechten Risikostruktur bestraft, andererseits werden aber auch überdurchschnittliche Ausgaben nicht über den Ausgleich 'refinanziert'. Die Zielrichtung des RSA entspricht damit dem oben umrissenen Grundsatz: Der Bund soll lediglich die aus ungünstigen Strukturen in Einnahme- und Ausgabenbereich der LKV resultierenden Defizite abdecken. Bislang nimmt die LKV als einzige Kassenart am Risikostrukturausgleich nicht teil. Bundesknappschaft und Seekrankenkassen, deren Versicherte ebenso wie die der LKV kein Kassenwahlrecht besitzen, sind dagegen in den RSA einbezogen worden.Im Bereich der LUV haben Kürzungen der Bundesmittel - für den Haushalt 1999 wurden die Zuschüsse von 615 auf 550 Mill. DM, für den Bundeshaushalt 2000 auf 500 Mill. DM festgesetzt - erhebliche Kritik am System insgesamt ausgelöst. Insbesondere der weitgezogene Kreis der Pflichtversicherten, regionale Belastungsunterschiede und nur unzureichend an Arbeitseinsatz oder Unfallrisiko ausgerichtete Beitragsmaßstäbe werden thematisiert. Forderungen nach einer Abdeckung der 'alten Last' durch den Bund oder, darüber hinausgehend, nach einer Privatisierung der LUV unter gleichzeitiger Übernahme bestehender Rentenzahlungen durch den Bund werden erhoben. Selbst wenn die zuletzt genannte Forderung erfüllt werden sollte: Schon die unterschiedlichen Leistungsspektren von gesetzlicher und privater Unfallversicherung lassen es fraglich erscheinen, ob eine (Teil-) Privatisierung der LUV als realistische und sachgerechte Option angesehen werden kann. Nach wie vor fehlt jedoch eine formellrechtlich-materielle Grundlage für die Bundeszuschüsse zur LUV bzw. ein Verfahren, das den Umfang der Bundeszuschüsse zur Finanzierung der LUV regelt und nachvollziehbar begründet. Momentan sind diese lediglich im jeweiligen Bundeshaushaltsgesetz verankert und müssen in jedem Jahr neu beschlossen werden. Eine spezifische Begriffsprägung 'alte Last' für die LUV, die vom allgemeinen Verständnis dieses Begriffes im Sozialrecht abweicht, hilft hier nicht weiter. Im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften (BGen) besteht ein Lastenausgleichsverfahren, das seit 1968 durchgeführt wird und seitdem insbesondere der Entlastung der Bergbau-Berufsgenossenschaft diente. Eine Übertragung dieses Verfahrens würde dem o.g. Grundsatz entsprechen, dass der Bund für die Abdeckung einer Überlast in der LUV zuständig ist, darüber hinausgehende Zahlungen mit sektoral einkommenspolitischer Wirkung in Zukunft hingegen nicht mehr geleistet werden sollten. Maßgebliche Größe für die Ermittlung einer auszugleichenden Überlast ist bei diesem Verfahren die Relation zwischen der Lohnsumme und den Leistungsaufwendungen einer BG. Das Kriterium Lohnsumme steht im Bereich der LUV nur für die Gartenbau-BG zur Verfügung. Die Summe der versicherten Einkommen ist daher für den Bereich der LUV eine nur über Hilfsmaßstäbe zu bestimmende Größe. Vorsichtige Schätzungen auf der Grundlage von Hilfsmaßstäben ergeben, dass die Belastungen in der LUV insgesamt zwar deutlich höher liegen als beim Durchschnitt der gewerblichen BGen und dass die Belastungsunterschiede zunehmen. Die Ausgleichsschwelle, ab der die LBGen nach Maßgabe des Lastenausgleichsverfahrens der gewerblichen BGen ausgleichsberechtigt wären, wird jedoch nicht erreicht. Bedauerlicherweise lassen die verfügbaren Daten Lastsatzberechnungen für einzelne landwirtschaftliche BGen nur für die Gartenbau-BG zu. Deren Rentenlastsatz liegt indes sogar deutlich unter dem Durchschnitt der gewerblichen BGen. Dies stützt die Vermutung, dass die Belastung der BGen in der LUV erheblich variiert und möglicherweise einzelne landwirtschaftliche BGen auch nach dem Lastenausgleichsverfahren der gewerblichen BGen ausgleichsberechtigt wären. Politischer Wille kann dazu führen, dass lang gepflegte Gewohnheiten und Besitzstände auch im Bereich der Agrarsozialpolitik raschen und grundlegenden Veränderungen unterworfen sein können, wie die anstehende Reform der Organisation der LSV-Träger zeigt. Ein Bericht des Bundesrechnungshofes, der "unwirtschaftliche Personal- und Kostenstrukturen" feststellte und daher die Gründung einer Bundesanstalt für landwirtschaftliche Sozialversicherung vorschlug, zog politische Reformforderungen nach sich, die wiederum Anpassungsreaktionen ausgelöst haben. Dabei ist noch offen, ob es künftig einen bundeseinheitlichen Träger mit regionaler Untergliederung oder eine im Vergleich zu heute deutlich geringere Anzahl zumeist landesunmittelbarer Träger geben wird. Zumindest scheint festzustehen, dass sich die Zahl der LSV-Träger von momentan zwanzig um mehr als die Hälfte verringern wird.Unabhängig davon, ob tatsächlich eine Integration in die allgemeine Sozialversicherung angestrebt werden sollte oder das Sondersystem der LSV bestehen bleiben wird: Die soziale Absicherung der Landwirte und ihrer Familien wird auch zukünftig nicht vollständig über deren Beiträge zu finanzieren sein. Sie bleibt abhängig von externer Solidarität - entweder der Steuerzahler oder der Beitragszahler in den allgemeinen Systemen der sozialen Sicherung, deren Belastungen - bedingt durch demographische Entwicklung und technischen Fortschritt - ohnehin zunehmen werden. Der bereits 1988 von MAYDELL in seinem Gutachten festgestellte Rechtfertigungszwang dahingehend, "daß die Inanspruchnahme der in den Bundesmitteln zum Ausdruck kommenden außerlandwirtschaftlichen Solidarität die Ausschöpfung der den Versicherten zumutbaren Belastungsgrenzen voraussetzt", (S. 336) wird daher eher zu- denn abnehmen.

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Dr. PETER MEHL, FAL-Institut für Betriebswirtschaft, Agrarstruktur und ländliche Räume, Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft, Bundesallee 50, D-38116 Braunschweig
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