Der wissenschaftliche Fortschritt in der ökonomischen Theorie wurde in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt dadurch induziert, dass auf Annahmen, die sich als zu realitätsfern erwiesen, sukzessive verzichtet wurde. Man denke etwa an die Neue Institutionenökonomie, die erst durch den Verzicht auf die Annahme vollständiger Information ermöglicht wurde. Eine weitere wichtige Annahme blieb hingegen bis heute unangetastet. Kaum ein Ökonom stellt infrage, "dass wirtschaftlicher und allgemeiner Wohlstand immer positiv korreliert sind" (LUCKENBACH, 1986: 25). Mit dieser Annahme ist es möglich, vorbehaltlos all jene politischen Massnahmen zu empfehlen, die den wirtschaftlichen Wohlstand mehren, auch wenn man als Ziel die Maximierung des allgemeinen Wohlstands anerkennt. Das Konzept der Multifunktionalität hingegen hat zumindest das konzeptionelle Potenzial, um diese Annahme zu relativieren.
Der allgemeine Wohlstand setzt sich zusammen aus wirtschaftlichem und immateriellem Wohlstand. Die Korrelation zwischen allgemeinem und wirtschaftlichem Wohlstand ist also nur dann nicht positiv, wenn es negative Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichem und immateriellem Wohlstand gibt. Ökonomischer formuliert: Nur negative Externalitäten wirtschaftlichen Wachstums wären in der Lage, die Annahme von der positiven Korrelation zwischen wirtschaftlichem und allgemeinem Wohlstand infrage zu stellen.
Nun ist spätestens seit den 1970er Jahren bekannt, dass solche Externalitäten auch und gerade der landwirtschaftlichen Produktion im ökologischen Bereich bestehen. Negative Externalitäten wie die von der Landwirtschaft zu verantwortende Gewässerbelastung mit Pflanzenschutzmittelrückständen relativieren den gesellschaftlichen Wert landwirtschaftlicher Mehrproduktion, während die Offenhaltung von Flächen Vorteile in Hinblick auf Biodiversität und Landschaft erbringt, sodass prinzipiell auch eine wirtschaftlich unproduktive Landwirtschaft positiv auf die Gesamtwohlfahrt wirken kann.
Allerdings sind Ökonomen heute mit dem Konzept der öffentlichen Güter und mit ausgearbeiteten Methoden zu deren monetärer Bewertung in der Lage, viele der negativen und positiven technologischen Externalitäten der Landwirtschaft in politischen Empfehlungen zu berücksichtigen und somit zu ihrer Internalisierung beizutragen. Diese Art von Externalitäten reicht also kaum aus, um die Einführung eines neuen Begriffs wie den der Multifunktionalität zu rechtfertigen.
Doch schon für den immer aktuelleren Bereich des Tierschutzes ergeben sich neue Fragestellungen. Tierschutz ist kein Gut, sondern beschreibt die Beziehung zwischen Landwirt und Tier. Somit ist Tierschutz auch kein öffentliches Gut. Betriebswirtschaftlich effiziente Haltungsmethoden können jedoch zu starkem Unbehagen bei Tierschützern führen, auch wenn diese nicht aktiv in den Markt für Fleisch involviert sind. Und auch, obwohl die Tierschützer von den Haltungsbedingungen selbst an keiner Stelle physisch betroffen sind. Auch wenn das Wohl der Tiere selbst nicht in die Nutzenfunktion integriert wird, gilt dennoch, dass Tierschutzvorschriften in einer Gesellschaft den allgemeinen Wohlstand erhöhen können, während sie den wirtschaftlichen Wohlstand negativ beeinflussen. Offensichtlich sind also nicht nur technologische, sondern auch psychologische Externalitäten relevant.
Ein weiteres, bislang weitgehend unbeackertes Diskussionsfeld sind die Spezifika bäuerlicher Kultur. Die Haushalte landwirtschaftlicher Familienbetriebe haben eine höhere Kinderzahl als nichtlandwirtschaftliche, sind ortsansässiger und lokal daher stärker verankert, aber auch überdurchschnittlich von Problemen wie dem Alkoholismus betroffen (BOHLER und HILDENBRAND, 1997). Tritt man für eine deutliche Liberalisierung bzw. Abschaffung der Agrarpolitik ein, so muss man auch damit einverstanden sein, dass sich diese Spezifika in weniger wettbewerbsfähigen Regionen gemeinsam mit den bäuerlichen Familienbetrieben noch schneller als bislang auflösen werden. Dies wirkt weit über die bäuerlichen Familienbetriebe hinaus, auf Gesangvereine, Kirchgemeinden oder die freiwillige Feuerwehr. Für solche Wechselwirkungen zwischen ökonomischer und sozialer Entwicklung, seien sie positiv oder negativ, wäre wohl der Begriff der sozialen Externalität angebracht.
Der Begriff der Multifunktionalität ist nützlich, um zu beschreiben, dass wirtschaftliches Handeln geradezu konstitutionell von den verschiedensten Externalitäten begleitet wird. Dies trifft sicher nicht nur auf die Landwirtschaft zu, und es wird eine wichtige Aufgabe sein, das Konzept der Multifunktionalität auch auf andere Wirtschaftsbereiche zu übertragen. Doch aufgrund der starken ökologischen und kulturellen Eigenarten der Nahrungsproduktion ist die Landwirtschaft ein gutes Beispiel, um die Verknüpfung ökonomischer und nicht-ökonomischer Faktoren zu demonstrieren. Dies gilt vor allem dort, wo es nicht mehr um klar abgegrenzte Teilbereiche wie den Zuckermarkt geht (der vielleicht unterdurchschnittlich viele positive Externalitäten aufweist), sondern um die finanzielle Unterstützung des Agrarsektors als Ganzem. Allgemeiner gesprochen, geht es beim Konzept der Multifunktionalität also um das Verständnis von Kausalketten. Es gilt zu durchschauen, wie etwa das Verschwinden von Alpkäse zu individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrtsänderungen jenseits des Käsekonsums beitragen kann. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Multifunktionalität als Konzept oftmals gerade für distributive Ziele missbraucht wird.
Auch wenn, wie hier argumentiert wird, Externalitäten des wirtschaftlichen Handelns quasi ubiquitär sind, bedeutet dies nicht, dass alle auftretenden Externalitäten zur Erreichung gesamtwirtschaftlicher Effizienz internalisiert werden müssen. HADDOCK (2004) beispielsweise zeigt, dass öffentliche Güter oft auch dann in ausreichender Menge bereit gestellt werden, wenn Externalitäten nicht internalisiert werden. Und für psychologische Externalitäten stellen HOLCOMBE und SOBEL (2000) anhand eines Beispiels dar, dass es den ethischen Prinzipien der Gesellschaft in bestimmten Fällen widersprechen kann, solchen Externalitäten Rechnung zu tragen. Dies verkompliziert die wohlfahrtstheoretisch abgesicherte Herleitung effizienter politischer Massnahmen. Und selbst bei den verbleibenden relevanten psychologischen und sozialen Externalitäten stellt sich die Frage, ob eine realitätsnahe Monetarisierung - etwa der Auswirkung der Betriebsaufgabe auf den Gesangverein - möglich ist.
Die fruchtbarste Auseinandersetzung mit dem Konzept der Multifunktionalität ist daher vielleicht jene, sie als Erklärungsansatz dafür zu nutzen, dass in der Gesellschaft als Ganzes eine Präferenz für ein bestimmtes Agrarsystem wahrzunehmen ist - eine Präferenz, die sich beispielsweise an der hohen Zustimmung in Deutschland zur Agrarwende (MANN und MANTE, 2003) und zur starken Unterstützung der Landwirtschaft in der entsprechenden Volksabstimmung von 1996 in der Schweiz ablesen lässt. Es gibt An-
zeichen dafür, dass eine wirtschaftlich nicht wettbewerbsfähige Landwirtschaft die allgemeine Wohlfahrt der Gesellschaft dennoch mehren kann. Um dies im Detail zu prüfen, ist die breite gesellschaftliche Diskussion, wie sie etwa von HABERMAS (1981) in seinem Konzept der Deliberation vorgeschlagen wird, vielleicht ein geeigneteres Werkzeug als das traditionelle Instrumentarium der Wohlfahrtsökonomen.
Literatur
BOHLER, K.F. und B. HILDENBRAND (1997): Familienbiografien Alkoholkranker in der bäuerlichen Landwirtschaft: Zusammenfassung der Forschungsergebnisse. In: Kutsch, T.: Land- und Agrarsoziologisches Symposium. Bonner Studien zur Wirtschaftssoziologie, Bd. 7. Verlag M. Wehle, Witterschlick.
HABERMAS J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
HADDOCK, D.D. (2004): Irrelevant Externality Angst. In: http://www.isnie.org/ISNIE04/Papers/haddock1.pdf .
HOLCOMBE, R.G. and R.S. SOBEL (2000) Consumption Externalities and Economic Welfare. In: Eastern Economic Journal 26 (2): 157-170.
LUCKENBACH, H. (1986): Theoretische Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Vahlen, München.
MANN, S. (2005): Ethological farm programs and the "market" for animal welfare. In: Journal of Agricultural and Environmental Ethics 18 (4): 369-382.
MANN, S. und J. MANTE (2003): Die Agrarwende im Spiegel der Bevölkerung. In: Berichte über Landwirtschaft 81 (2): 302-315.