Am 12. und 13. Oktober 2000 fand im Centre des études européennes de Strasbourg (CEES) eine gemeinsame Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaues (GEWISOLA) und der Société Française d'Economie Rurale (SFER) statt. Auf der Tagung wurden in einer Plenarsitzung und in mehreren Arbeitsgruppen insgesamt 46 deutsche und französische Beiträge vorgestellt und diskutiert.
In diesem Schwerpunktheft der "Agrarwirtschaft" werden die meisten der deutschen Beiträge sowie ausgewählte deutsch/französische Gemeinschaftsbeiträge abgedruckt. Die meisten der französischen Beiträge, ausgewählte deutsch/französische Gemeinschaftsbeiträge sowie einige deutsche Beiträge werden, alle in französischer Sprache, in "Economie Rurale" veröffentlicht. Da in diesem Schwerpunktheft nur eine Auswahl der Tagungsbeiträge präsentiert wird, orientiert sich die Reihenfolge der Beiträge nicht am Tagungsablauf, sondern sie wurden vier Themenbereichen zugeordnet:
a) Vergleichende Untersuchungen zur Agrarpolitik und zur Ernährungswirtschaft in Deutschland;
b) Europäische Agrarpolitik und WTO-Verhandlungen;
c) Agrarpolitik und Ländliche Entwicklung;
d) Unternehmen und Märkte der Ernährungswirtschaft.
Deutschland und Frankreich haben die Gemeinsame Agrarpolitik in der Europäischen Union entscheidend geprägt und deren Entwicklung bis zur Agenda 2000 deutlich beeinflusst. Zu dieser Gemeinsamen Agrarpolitik gab es gemeinsame und kontroverse Standpunkte, die in der Öffentlichkeit auf der jeweils anderen Seite des Rheins allerdings nur begrenzt wahrgenommen worden sind. Auch in der Agrarökonomie ist die gegenseitige Kenntnis über Arbeitsgebiete und -ergebnisse wenig ausgeprägt. Sicherlich sind die Beteiligten eingebettet in die internationale wissenschaftliche Kommunikation, doch der direkte Gedankenaustausch könnte zweifellos intensiver sein.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee zu der deutsch-französischen Tagung in Straßburg mit dem Thema "Landwirtschaft und Agrarpolitik in Deutschland und Frankreich: auf der Suche nach neuen Wegen". Zwei Ziele standen im Vordergrund:
o Zum einen sollten vor dem Hintergrund struktureller und politischer Rahmenbedingungen in beiden Ländern Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der aktuellen agrarpolitischen Debatte herausgearbeitet werden. Wie unterscheiden sich Standpunkte zur Gemeinsamen Agrarpolitik nach den verschiedenen Reformen und angesichts neuer Herausforderungen wie der Osterweiterung und weiterer Globalisierungstendenzen auch im Agrarbereich?
o Zum anderen sollte die Tagung direkt dem Ideenaustausch zwischen Wissenschaftlern sowie öffentlichen und privaten Entscheidungsträgern in beiden Ländern dienen. Sie sollte die Gelegenheit geben, nicht nur aktuelle Forschungsarbeiten, sondern auch einander besser kennen zu lernen.
Die Organisation der Tagung und die Gestaltung des Programms oblag einem Organisationskomitee, dem folgende Personen angehörten: Hélène Delorme, Paris; Günther Fratzscher, Bonn; Roland Herrmann, Gießen; Dieter Kirschke, Berlin; Jacques Loyat, Straßburg; Daniel Perraud, Grenoble; Hélène Wehrlin, Paris; Jürgen Zeddies, Hohenheim und Beate Zimmermann, Hohenheim. Das Programm der Tagung wurde im Wesentlichen nicht vorgegeben, sondern öffentlich ausgeschrieben und nach Richtung und Qualität der eingereichten Vorschläge gestaltet. So vermittelt bereits das Programm aktuelle Arbeitsschwerpunkte in beiden Ländern. Die meisten der eingereichten Beiträge bezogen sich etwa gleichgewichtig auf folgende Arbeitsbereiche:
o Produktion und Wettbewerbsfähigkeit
o Landwirtschaft und ländlicher Raum
o Märkte und Ernährungswirtschaft.
Darüber hinaus bestand ein Interesse an folgenden Arbeitsbereichen:
o Gemeinsame Agrarpolitik
o Landwirtschaft und Umwelt
o Bildung, Forschung und Hochschulkooperation.
"Klassische" Themen aus Landwirtschaft, Agrar- und Ernährungssektor und ländlichen Raum spiegelten also das Tagungsangebot wider. Demgegenüber überrascht vielleicht ein nicht so starkes Angebot von Themen im Umwelt- und Politikbereich, wie man es vielleicht erwartet hätte.
Am Ende der Tagung stand eine ausführliche Abschlussdiskussion, und aus deutscher Sicht sollen hier einige Eindrücke zusammengefasst werden. Das soll einmal mit einer einzelbetrieblichen Sichtweise erfolgen und zum anderen aus gesamtwirtschaftlicher und politischer Sicht.
Aus einzelbetrieblicher Sicht sollen drei Punkte hervorgehoben werden.
In der Debatte um die Fortführung der in der Europäischen Union gewährten Preisausgleichszahlungen bestand weitgehende Übereinstimmung in der Befürchtung, dass sie in weiteren Verhandlungsrunden der WTO so nicht verteidigt werden können. Gemeinsamkeit bestand auch in der Auffassung, dass bei zunehmender Liberalisierung der Weltagrarmärkte ein Ausgleich für echte Wettbewerbsverzerrungen und gesellschaftliche Ansprüche an die Art der Landbewirtschaftung und Landschaftsgestaltung unverzichtbar ist. In der Debatte über Wettbewerbsverzerrungen, ob es sie überhaupt gibt und wenn ja, in welcher Höhe, gab es mehr Fragen als Antworten. Defizite wurden darin gesehen, dass Informationen über Kostenunterschiede für gegebenenfalls echte Wettbewerbsverzerrungen zwar für wichtige Agrarrohstoffe vorliegen, nicht jedoch für die gesamte Prozesskette einschließlich Verarbeitung, Transport und Distribution. Hier gibt es schon zwischen EU-Mitgliedstaaten große Unterschiede in den Bereichen Umwelt, Arbeit, Soziales, Steuern, Abgaben usw., und hier ist die Forschung stärker gefordert, wenn ausgleichsfähige und nicht ausgleichsfähige Kostenunterschiede quantifiziert und gegebenenfalls Ausgleichszahlungen begründet werden sollen.
In einem zweiten Diskussionsfeld ergaben sich eher Unterschiede zwischen den Ländern, insbesondere im Bereich Erbrecht, Unternehmensbesteuerung, Boden- und Quotenmarkt. Der Informations- und Ideenaustausch der Wissenschaftler hat vielen deutschen Teilnehmern bewusst gemacht, dass in Frankreich durch regionale Mindest- und Maximalflächen je Betrieb wirkungsvolle Instrumente zur Steuerung des agrarstrukturellen Wandels eingesetzt werden. Das Unternehmenswachstum wird dort durch Obergrenzen, Agrarkreditkonditionen und andere Maßnahmen begrenzt. Weitgehende Übereinstimmung bestand wiederum in der ökonomischen Bewertung dieser Instrumente als allokationsmindernd und wettbewerbsnachteilig. Offen blieben weitgehend die Fragen, ob diese agrarstrukturellen Eingriffe auch erwünschte Effekte, z. B. auf die Nachfrage nach und Preise von Pachtland, stärkere Anreize für die innere Aufstockung der Betriebe durch Integration von Tierproduktion in Ackerbaugebieten bewirken, dadurch positive Umwelteffekte fördern und die vielfachen Umgehungsversuche durch Kooperationen eher positive Einkommenstransfereffekte für kleinere Betriebe bieten, wenn sie denn kooperationswillig sind. Auch für diesen Bereich konnte festgestellt werden, dass es noch viele Forschungsfragen zur Bewertung der Politikoptionen gibt.
Ein dritter Punkt aus betriebswirtschaftlicher Sicht war der durch das französische "Gesetz zur Orientierung der Landwirtschaft" vom Juli 1999 geschaffene neue Ansatz, Multifunktionalität und Naturschutz im ländlichen Raum besser durchzusetzen. Wichtige Ziele dieses Gesetzes sind die Erhaltung möglichst vieler Betriebe im ländlichen Raum und die Nutzung regionsspezifischer Spezialitäten und Produktqualitäten sowie eine bessere Ausrichtung auf Verbraucherpräferenzen und regionales Marketing. Die Diskussionen führten zu dem Ergebnis, dass in diesen Punkten wiederum mehr Fragen gestellt wurden als Antworten gegeben werden konnten. Der Ansatz, dass regional Betroffene stärker in die Definition dessen, was man mit Multifunktionalität will, und in welchem Umfang Umwelt- und Naturschutzpolitik auf unterer Ebene realisiert werden soll, einbezogen werden sollen, folgt dem Subsidiaritätsprinzip und ist grundsätzlich richtig. Die dabei im Vordergrund stehende Frage ist weniger die ökonomische Bewertung, sondern vielmehr die Definition von Leitlinien zur Organisation und Durchführung solcher Projekte. Gemeinsamkeit bestand wiederum in der Feststellung, dass Agrarumwelt- und Naturschutzpolitik in der Europäischen Union nicht (überall) nach dem Subsidiaritätsprinzip unter angemessener Beteiligung der Akteure und Betroffenen und optimaler Kompetenzzuweisung zu den relevanten Ebenen geregelt ist. Gleichwohl wurde auch deutlich, dass ein Problem in Defiziten der fiskalischen Äquivalenz besteht. Die Finanztransfers laufen in den Mitgliedstaaten bzw. Regionen der EU unterschiedlich, aber überwiegend eher in die Städte, während gleichzeitig Städter höhere Anforderungen an Multifunktionalität, insbesondere schöne Landschaft, stellen. Auch hier haben die Diskussionen gezeigt, dass Ideen- und Wissensaustausch nützlich ist und weiterer Forschungsbedarf besteht.
Aus gesamtwirtschaftlicher und politischer Sicht sollen drei Punkte hervorgehoben werden. So ist zunächst einmal eine gewisse Verblüffung darüber zu konstatieren, wie stark die Gemeinsamkeiten in Arbeitsbereichen und Ansichten zu Agrarwirtschaft und Agrarpolitik auf deutscher und französischer Seite eigentlich sind. Eine Zielsetzung der Tagung war es ja, Gemeinsamkeiten und Unterschiede diesseits und jenseits des Rheins herauszuarbeiten. Und natürlich gibt es Unterschiede, aber das eigentlich Bemerkenswerte ist: die Gemeinsamkeiten überwiegen deutlich.
Früher war das offensichtlich anders, und die kontroversen Debatten über die Geschäftsgrundlage in der Gemeinsamen Agrarpolitik und die Fortentwicklung dieser Politik sind bekannt. Wie kommt es zu dieser neuen Gemeinsamkeit in den Auffassungen? Liegt es vielleicht daran, dass die Trennlinien in den Auffassungen zu Landwirtschaft und Agrarpolitik heute nicht mehr zwischen Ländergrenzen verlaufen, sondern eher innerhalb einzelner gesellschaftlicher Gruppen? Der Agrarbereich steht bisweilen mit dem Rücken an der Wand in der gesellschaftlichen Diskussion, wie die aktuelle BSE-Krise in Deutschland zeigt, und angesichts dieser Entwicklung werden länderspezifische Unterschiede im Agrarbereich vielleicht weniger bedeutsam.
Gemeinsamkeiten gibt es vor allem auch in den Vorstellungen zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik. Zu einem Zauberwort für die Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik hat sich auf beiden Seiten die "multifunktionale" Landwirtschaft entwickelt, obwohl auch diese Tagung wenig zu einer Operationalisierung des Begriffs beigetragen hat. Außer Frage ist, dass generell die neuen Funktionen der Landwirtschaft und die Bedeutung des ländlichen Raums für die eigene wissenschaftliche Arbeit betont werden.
Gemeinsamkeiten gibt es schließlich auch, und das sei kritisch angemerkt, wenn es immer noch um die Betonung der Sonderrolle des Agrarbereichs im Vergleich zur übrigen Volkswirtschaft geht. So fiel auf der Tagung eine gewisse "Introvertierung" in der Wahl der Themen auf, eine verengende Sicht auf Agrarprobleme und ein Ausklammern von Themen etwa, die den gesamtwirtschaftlichen und den internationalen Rahmen explizit ansprechen. Wenig betont wurde auch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Agrarbereichs als explizites agrarpolitisches Ziel, wo diesem doch eigentlich eine grundlegende Bedeutung angesichts zunehmender Globalisierungstendenzen und internationaler Verantwortung zukommt. Früher wurde schließlich eine gewisse französische Präferenz für eine Perfektionierung staatlicher Eingriffe in den Agrarbereich kritisiert. Die Tagung hat gezeigt, dass man sich auch in diesem Bereich angeglichen hat; Perfektionierungstendenzen gibt es heute beiderseits des Rheins.
Als zweiter wichtiger Punkt sei hervorgehoben, dass der mit dieser Tagung ermöglichte Ideenaustausch, das offene Ansprechen und nicht das Ausklammern von Problembereichen, uneingeschränkt positiv zu werten ist. Eine solche Einschätzung liegt nicht an den Inhalten, und sie hat auch nichts mit der in Deutschland verbreiteten und von uns geteilten Wertschätzung französischer Sprache und Kultur zu tun; sie unterstreicht vielmehr den Nutzen direkter Kommunikation für beide Seiten.
Im Vorfeld der Tagung hat es Fragen zum Sinn einer solchen bi-nationalen Veranstaltung angesichts einer internationalen Wissenschaftsgemeinschaft gegeben. Globalisierung fängt aber durchaus vor der Haustür an, also auch in der Kommunikation mit dem Nachbarn, und sie vollzieht sich nicht nur auf internationalen Konferenzen. Es ist positiv, dass Agrarökonomen in Deutschland und Frankreich ganz bewusst das Gespräch suchen, und die Tagung hat bestätigt, dass das Sinn macht.
Als dritter und letzter Punkt aus gesamtwirtschaftlicher und politischer Sicht sei schließlich folgende Beobachtung angesprochen: Auch diese Tagung hat gezeigt, dass die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Gestaltung von Agrarpolitik offensichtlich immer größer wird. Was erwarten wir heute nicht alles von einer vernünftigen Agrarpolitik? Wir nehmen uns vor und trauen uns wohl auch zu, multifunktionale Landwirtschaft politisch gestalten zu wollen, obwohl überhaupt nicht klar ist, wie das geschehen soll. Auch sind die praktischen Erfahrungen mit der Gestaltung von Agrarpolitik ernüchternd: 30 Jahre lang reden wir in der EU-Agrarpolitik über eine zielorientierte Einkommens- und heute auch Umweltpolitik, und wir sind heute bei der Agenda 2000 angekommen, deren wesentlicher Kern es ist, die Subventionierung einzelner Produkte durch die Subventionierung der Produktionsfaktoren "Fläche" und "Tiere" zu ersetzen. Um ein Bild zu zeichnen: Jahrzehntelang haben wir in der EU die Milch subventioniert anstatt den Landwirt direkt; heute wollen wir zwar nicht mehr die Milch subventionieren, sondern die Kühe, aber noch immer nicht den Landwirt selber.
Angesichts dieser Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Gestaltung von Agrarpolitik ist natürlich Wissenschaft gefragt. Positiv ausgedrückt: Es kommt viel Arbeit auf die Profession der Agrarökonomen zu, und so soll das sein! Es ist allerdings zu hoffen, dass unsere Profession sich dabei nicht nur auf das Beschreiben und Erklären konzentriert, was sie kann und wozu sie neigt, sondern substanzielle Entscheidungsunterstützung für die Gestaltung von Agrarpolitik leistet. Auch auf der Tagung in Straßburg sind Defizite in einer solchen "normativen" Ausrichtung von Agrarökonomik sichtbar geworden, deren Beseitigung zu Recht angemahnt wird.