Landwirtschaft, Lebensmittelnachfrage, Verbraucherverhalten und Gesundheit

Andreas Boecker

Published: 16.05.2007  〉 Jahrgang 56 (2007), Heft 4  〉 Resort: Article  〉  Deutsch
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DOI:
N. A.

ABSTRACT

Die westlichen Industrienationen stehen allesamt vor einem großen Problem, das in ihrem Wohlstandserfolg begründet liegt: hohe und stetig steigende Gesundheitskosten. Die Überalterung der Bevölkerung trägt ebenso dazu bei wie ernährungsbedingte Krankheiten. Hauptübel sind Adipositas und Übergewicht, die sich rasend schnell ausgebreitet haben und es weiter tun. In Nordamerika wird daher von der „Obesity Epidemic“ gesprochen. In Europa ist das Ausmaß zwar geringer, aber nicht minder Besorgnis erregend. Zum einen tickt in diesem Phänomen die Zeitbombe zukünftiger Kostenexplosion. Zum anderen sind die unteren Einkommensschichten überproportional betroffen.

Michael Pollan, Autor von „Omnivors’s Dilemma“, sieht in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag in der New York Times die Ursache dafür in der Preisgünstigkeit energiedichter, verarbeiteter Lebensmittel. Bezug nehmend auf DREWNOSKI et al., führt er auf, wie viele Kalorien man für einen US-Dollar durch verschiedene Lebensmittel aufnehmen könne: 1 200 durch Kekse oder Kartoffelchips gegenüber 250 durch Karotten; 875 durch Cola gegenüber 170 durch Orangensaft. Bei geringem Einkommen sei es also rational, sich von verarbeiteten, energiedichten Produkten zu ernähren – allerdings auf Kosten der Gesundheit. Denn verarbeitete Produkte sind aufgrund der höheren Energiedichte und des geringeren Rohfasergehaltes weniger sättigend und setzen stärker an. Zwar liegen mir keine Zahlen für Ländervergleiche vor, aber diese Relationen dürften weltweit ähnlich sein.

Die Ursache für diese ungesunden Preisrelationen je Kalorie wiederum sieht Pollan in der Agrarpolitik der USA. Die Farm Bill mit der Unterstützung weniger Erzeugnisse, vor allem Mais, Sojabohnen und Weizen, habe die Hauptzutaten für verarbeitete Produkte wesentlich verbilligt. Wenn dem einfach so wäre, dann müsste die Entkoppelung in der EU-Agrarpolitik mehr von der WHO als von der WTO begrüßt werden. Aber auch ohne PAUL KRUGMANS „Pop Internationalism“ gelesen zu haben, ist klar, wie Pauschalurteile und Vereinfachungen in der öffentlichen Diskussion verhaften und wie selten eine differenzierte ökonomische Betrachtung erwünscht ist. Trotzdem oder gerade deswegen wird auch in Kanada über die Verbindung zwischen Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit verstärkt nachgedacht. Es geht zum einem um die möglichen Auswirkungen der Agrarpolitik auf die Gesundheit und zum anderen um die Aussichten der Landwirtschaft, von verändertem Gesundheitsverhalten der Verbraucher und nachhaltigen Gesundheitstrends finanziell zu profitieren.

Dabei muss aber gerade eben vor der Vereinfachung gewarnt werden, die POLLAN unterlaufen ist, indem eine direkte Verbindung zwischen Landwirtschaft und Agrarpolitik auf der einen und dem Verbraucherverhalten und der Gesundheit auf der anderen projiziert wird. Stattdessen ist eine komplexe und dynamische internationale land- und ernährungswirtschaftliche Wertschöpfungskette dazwischen geschaltet. Hinzu kommt, dass Bevölkerungsgesundheit vielschichtig ist und neben der Ernährung von vielen Faktoren beeinflusst wird. Dazu gehören neben der genetischen Grundausstattung Eigenschaften des beruflichen Tätigkeit sowie der körperlichen und geistigen Aktivität. So ist die Bedeutung von „Convenience“ für Konsumentscheidungen ungebrochen, in Kanada deutlich sichtbar an der „Drive Thru“-Mentalität und der Tatsache, dass das Zu-Fuss-Gehen mit Slogans wie „Walking is Your Health’s Best Friend!“ als gesundheitsförderndes Fortbewegungsmittel beworben wird. Fest steht auch, dass Anreize zur Verhaltensänderung nicht nur in Individuen, sondern auch in Gruppen definiert sind. Offensichtlich verlangt die Auseinandersetzung mit der Bevölkerungsgesundheit und Anreizen für Verhaltensänderungen durch politische und gesellschaftliche Maßnahmen umfassende Ansätze und interdisziplinäres Arbeiten.

Agrar- und Ernährungsökonomen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie eine nach Verbraucher- bzw. Haushaltssegmenten differenzierte Nachfrageanalyse vorantreiben. Die Segmentierung kann sich an der Risikoklassifizierung der jeweils betrachteten ernährungsbedingten Krankheit orientieren oder an Kriterien, die für Erreichbarkeit durch Kommunikationsmaßnahmen relevant sind, wie z.B. Lebensstile oder soziale Schichten. Die Kenntnis von segmentspezifischen Einkaufsverhalten oder Preiselastizitäten ist von zentraler Bedeutung für Informations- und Aufklärungsmaßnahmen bzw. die Prognose der Wirkungen von Maßnahmen wie die Besteuerung „ungesunder“ Lebensmittel bzw. Nährstoffe oder die Subventionierung „gesunder“ Lebensmittel. Mit der Ermittlung segmentspezifischer Warenkörbe können darüber hinaus neben den Preisen weitere absatzpolitische Instrumente wie Werbung und Verkaufsförderung in die Analyse einbezogen werden. Denn als Teile der Wertschöpfungskette, die dem Endverbraucher am nächsten sind, ist der Einfluss von Verarbeitern und Einzelhandel auf das Einkaufsverhalten am größten. Das gleiche gilt selbstverständlich für alle Anbieter des Außer-Haus-Verzehrs. Die Datenlage ist hier jedoch dürftig im Vergleich zum Lebensmitteleinkauf mit verfügbaren Panel- und Scannerdatensätzen.

Eine segmentspezifische Untersuchung der Nachfrage nach funktionellen Lebensmitteln kann auch Aufschluss über die zu erwartenden Auswirkungen auf die Bevölkerungsgesundheit bringen. Zwar verlangt die Kennzeichnung von funktionellen Lebensmitteln eine in klinischen Studien belegte Gesundheitswirkung, doch die tatsächlichen Gesundheitswirkungen werden wesentlich von der Verteilung des Konsums abhängen.

Eng verbunden mit der oben beschriebenen segmentspezifischen Betrachtung ist das heterogen verteilte Wissen um die Zusammenhänge von Ernährung, Aktivität und Gesundheit. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage: Woher kommen die Informationen, die Verbraucher zur Erlangung von gesundem Verhalten brauchen, akzeptieren, verarbeiten, erinnern und umsetzen? Es ist offensichtlich, dass solche Informationen auf den Märkten der Gesundheitsberatung gehandelt werden. Doch wie sehen diese Märkte aus? Wie entwickeln sich diese? Welche Bedeutung haben informelle Märkte? Wer sind die Nachfrager auf diesen Märkten, wer die Anbieter? Auf welche Art erreichen diese die Nachfrager? Und wen erreichen sie nicht? Für die Ernährungsberatung, die unter Annahme eines gegebenen Budgets einen maximalen Beitrag zur Erhöhung der Bevölkerungsgesundheit leisten soll, ist die Frage nach der Effektivität die entscheidende. Denn nur dort, wo die richtige Information auch wirklich ankommt, kann eine Verhaltensänderung bewirkt werden. Hier schließen sich vergleichende Länderstudien an, da diese Märkte in unterschiedlichen institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen eingebettet sind, z.B. bedingt durch das Gesundheitssystem oder Präferenzen für öffentliche oder privatwirtschaftliche Maßnahmen.

Für Agrar- und Ernährungsökonomen stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Verbindung der Informationsmärkte mit den Märkten der Land- und Ernährungswirtschaft auf. So ist es keine neue Beobachtung, dass Verarbeiter und Einzelhändler als Anbieter von Informationen auf diesen Märkten ebenfalls präsent sind. Neu bzw. relativ neu ist jedoch die Qualität, mit der sie dort dank ihrer Ressourcenausstattung und der Informations- und Kommunikationstechnologie auftreten. Unternehmen unterhalten zunehmend umfangreiche Datenbanken und stehen in perma-
nenten Austausch mit Millionen von Verbrauchern, wobei Gesundheit und Ernährung eine bedeutende Rolle spielen. Hier kann man ohne Zweifel den Ausbau einer Säule der Marktmacht sehen, aber auch industrieökonomisches Forschungspotential im Sinne von SUTTONS endogenen versunkenen Kosten, die zu steigender Marktkonzentration führen.

Abschließend sei noch einmal auf die zentrale Rolle der Verarbeitung und des Einzelhandels für die Verbindung zwischen Landwirtschaft und Bevölkerungsgesundheit hingewiesen. Zumindest teilweise induziert durch die ungebrochene Nachfrage nach der Produkteigenschaft „Convenience“, ist die technologische Entwicklung auf der Verarbeitungsstufe rasant vorangeschritten. Etwas überspitzt ausgedrückt, lassen sich landwirtschaftliche Erzeugnisse beinahe beliebig in ihre Bestandteile zerlegen und – zumeist sensorisch optimiert – ebenso beliebig wieder zusammenfügen. Was dabei wie und wozu verwendet wird, wird nicht allein von Preisrelationen bestimmt, sondern auch von technischer Eignung und Beschaffenheit. Der Lebensmittelhandel nutzt darüber hinaus die strategische Preissetzung erfolgreich als Wettbewerbsinstrument. Verschiedene Produktkategorien, z.B. Fleisch und Fleischwaren, werden für Lockvogelangebote genutzt. Doch mit welchen Produkten werden die geringen bis negativen Handelsspannen wieder ausgeglichen? Dazu bieten sich u.a. diejenigen an, die im Verdacht stehen gesundheitsfördernd zu sein. Denn dafür sollten die Kunden eine erhöhte Zahlungsbereitschaft haben. Die Analyse von produkt- bis markenspezifischen Handelsspannen wird Aufschluss darüber geben. Unter diesen Bedingungen ist aber die Frage zu stellen, mit welcher Präzision die Wirkung von agrar- und ernährungspolitischen Maßnahmen, die auf die Erhöhung der Bevölkerungsgesundheit abzielen, prognostiziert werden können.

Literatur

DREWNOWSKI, A., E. ALMIRON-ROIG, C. MARMONIER and A. LLUCH (2004): Dietary Energy Density and Body Weight: Is There a Relationship? In: Nutrition Review 62 (11): 403-413.

KRUGMAN, P. (1996): Pop Internationalism. MIT Press,
Cambridge.

POLLAN, M. (2007): The Way We Live Now - You Are What You Grow. New York Times vom 22.4.2007.

– (2006): The Omnivore's Dilemma. The Penguin Press, New York.
SUTTON, J. (1991): Sunk Cost and Market Structure. MIT Press, Cambridge.

1) Anfang März hat das Canadian Agricultural Policy Institute, CAPI, eine Arbeitsgruppe zum Thema „Links Between Health and Agriculture“ einberufen. Der Endbericht, der im September fünf Ministerien vorgelegt werden wird, soll Forschungserfordernisse für mögliche Ansatzpunkten zu einer integrierten Agrar-, und Ernährungspolitik herausstellen. Der Autor hat als Vertreter des Department of Food, Agricultural and Resource Economics der University of Guelph an der 2. Sitzung der CAPI-Arbeitsgruppe teilgenommen. Davon ist dieses Editorial wahrscheinlich nicht unbeeinflusst, aber es gibt keine Ergebnisse oder Beschlüsse wieder.

2) Die Unterscheidung von gesunden und ungesunden Lebensmitteln ist problematisch, da sie nur aufgrund hygienischer Kriterien eindeutig möglich ist, aber ansonsten von der konsumierten Menge abhängig ist. Ausnahmen sind jedoch Bestandteile in Lebensmitteln, die generell als gesundheitsgefährdend eingestuft werden, wie z.B. „Trans Fats“, die in Nordamerika kurz vor dem Verbot stehen.

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DR. SC. AGR. ANDREAS BOECKERDR. SC. AGR. ANDREAS BOECKER
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