Electronic Business in der Agrar- und Ernährungswirtschaft – Ernüchterung und Konsolidierung lösen die anfängliche Euphorie ab

REINER DOLUSCHITZ

Published: 05.02.2002  〉 Heft 2 (von 8) 2002  〉 Resort: Article 
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ABSTRACT

Vor dem Hintergrund diametral konträr verlaufender Entwicklungen (vgl. u.a. SCHIEFER, 2001), sehr unterschiedlicher Einschätzungen (vgl. u.a. MÜLLER, 1999; POHLMANN, 2001) und einer Vielzahl unbeantworteter Fragen im Bereich Electronic Business in der Agrar- und Ernährungswirtschaft kann es nicht Ziel dieses kurzen Beitrages sein, eine abschließende Wertung zum E-Business in der Agrar- und Ernährungswirtschaft vorzulegen. Dies scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt des massiven Umbruchs schlicht unmöglich. Vielmehr ist es derzeit wichtig,
· die wesentlichen Fakten darzulegen,
· auf der mikroökonomischen Theorie basierende Chancen und Risiken zu nennen,
· vorhandene Potenziale und empirisch begründete Perspektiven zu skizzieren und
· eine vorsichtige Wertung vorzunehmen.
Die (nüchternen) Fakten
1) Als E-Business bezeichnet man "... jede Art geschäftlicher Transaktion, bei der die Beteiligten auf elektronischem Wege Geschäfte anbahnen und abwickeln oder elektronischen Handel mit Gütern und Dienstleistungen treiben" BMWi (2000). Dies ist zunächst keinesfalls eine spektakuläre Innovation und es ist schwer vorstellbar, dass allein auf diesem Fundament eine "New Economy" entsteht. Allerdings wird mit dem Internet eine Technologie mit einer ganz spezifischen Eigenschaftskombination genutzt.
2) Die Internet-Technologie wurde allerdings keinesfalls mit dem Ziel der kommerziellen Nutzung geschaffen. In den 1960er Jahren vordergründig als sicherheitspolitisches Instrumentarium mit dem Funktionsspektrum Informationsaustausch und Kommunikation geschaffen, wird das Netz seit den 80er Jahren wissenschaftlich genutzt und multinationale Firmen setzten es zur weltweiten Kommunikation ein. Mit der Einführung des grafisch orientierten Internet-Dienstes World Wide Web (WWW) beginnen in den 90er Jahren die Kommerzialisierung und eine rasante Expansion des Netzes. Dabei stellt das Internet ein Medium dar, das wie kein anderes in unmittelbarer Nähe zueinander die Kommunikation, die Vermittlung von Inhalten, die Bildung virtueller Gemeinschaften und die Abwicklung von Geschäften grundsätzlich ermöglicht, also im Sinne noch nicht vollständig erforschter Merkmalskombinationen durchaus Potenziale beinhaltet.
3) Voraussetzungen zum breiten Zugang und zur Nutzung des Internet müssen in technischer Hinsicht, bezüglich des Ausbildungsstandes, der notwendigen finanziellen Mittel und rechtlicher Vorgaben gegeben sein. Bezüglich der technischen Voraussetzungen müssen in einer Mindest-Konfiguration (lediglich) ein Computer, eine Telefonleitung und ein Modem oder ein ISDN-Anschluss, eine Internet-Anbindung und Internet-Software vorhanden sein. Diese Basis-Bedingungen sind mittlerweile bei der Mehrzahl der wirtschaftlichen Akteure in industrialisierten Ländern erfüllt. Bezüglich der Vorbildung ist hingegen umfangreicheres Know-how notwendig als es zur Bedienung von Telefon, Rundfunk und Fernsehen benötigt wird. Solches "Breitband-Knowhow" und eine Technologieaufgeschlossenheit sind gerade bei Landwirten zu erwarten (STIENS, 1999) und spätestens im Zuge des Generationswechsels wird dieser Ausbildungsstand vollständig geschaffen sein. Der finanzielle Aufwand zur Nutzung des Netzes stellt keine unüberwindbare Hürde dar. Bezüglich der rechtlichen Voraussetzungen bestehen in demokratischen Gesellschaftssystemen kaum Restriktionen bezüglich des Zugangs.
4) Die Agrar- und Ernährungswirtschaft bietet aufgrund ihrer typischen Strukturmerkmale (u.a. polypolistische Markt- und heterogenen Betriebsstrukturen, horizontale und vertikale Kooperationen, "Genossenschaftsgedanke") und existenter vernetzter Strukturen (vgl. auch DOLUSCHITZ UND SPILKE, 2002) grundsätzlich gute Voraussetzungen für die Internetnutzung und das E-Business. U.a. durch Produktkrisen ausgelöst und eng am Verbraucherschutz orientiert, soll in der Branche aktuell zudem kurzfristig die Transparenz bei Produktion, Verarbeitung und Vermarktung erhöht werden. Hieraus ergeben sich Konsequenzen und in deren Folge Beratungsbedarf für die internen und multilateralen externen Geschäftsbeziehungen, die mit den modernen Möglichkeiten im Bereich IuK abgefangen werden könnten. Nahezu alle Akteure der Branche auf nationaler und internationaler Ebene präsentieren sich bereits im Netz. Vertrautheit mit dem Medium sollte also gegeben sein. Alle denkbare x2y-Ausprägungen des E-Business zwischen Consumer (C), Business (B) und Public Administration (PA) wären auf die Agrar- und Ernährungswirtschaft übertragbar, sowohl als sog. Parallelmodelle als auch als Exklusivmodelle.
Agrarportale (Einstiegsseiten und feste Anlauf- und Rückkehrpunkte innerhalb des Internets wie etwa farmpartner.com, raiffeisen.com, …) fungieren branchenintern und -übergreifend als Marktmittler, können vollständig auf die Bedürfnisse von Benutzern aus der Landwirtschaft zugeschnitten werden und bieten darüber hinaus Orientierungshilfen und Service. Nach eigener Einschätzung werden solche Branchenportale in Deutschland mittelfristig allerdings von 15 (Mitte 2001) zu künftig 2 bis 3 großen Portalen kondensieren/ fusionieren (vgl. auch GOLOMBEK, 2001).
Chancen und Risiken
Zweifelsohne beinhaltet das E-Business potenzielle Chancen entlang der mikroökonomischen Theorie. Hierzu zählen in erster Linie eine Senkung der Transaktionskosten, der Lagerhaltungskosten (bei Etablierung von "just in time"-Lösungen) sowie der Vermarktungs- und Standortkosten (Verkaufs- und Geschäftsflächen). Dies gilt in Teilen allerdings auch für den klassischen Versandhandel. Weitere Vorzüge lassen sich in Form einer Steigerung des Absatzpotenzials durch Zusatzleistungen und eine stärkere Kundenorientierung, eine Internationalisierung/ Globalisierung, in Form ökologischer Vorteile (Energie- und Ressourceneinsparung), einer Wettbewerbsstärkung (Erhöhung der Marktmacht und Verbesserung der (globalen) Markttransparenz von Verbrauchern und von kleinen Betrieben), einer höheren Flexibilität und von mehr Bequemlichkeit, von Beschleunigung, Zeitersparnis und damit einer Produktivitätssteigerung feststellen.
Die Gefahren und Risiken des Internet und des E-Business sind andererseits, zumindest potenziell, nicht unerheblich. Sie sind den Rubriken Technik (Mangel an notwendigen Ressourcen, Inkompatibilitäten von Übertragungsgeschwindigkeit, Übertragungsvolumen, Adressraum, Produktrestriktionen), Sicherheit (Datenschutz, Authentizität, Integrität, Vertraulichkeit, elektronische Zahlungssysteme, Selbstregulation, globale Einflussmechanismen), Recht (fehlende geografische und administrative Grenzen, Rechtssicherheit, Besteuerung), soziale Aspekte (unkritische Toleranz gegenüber Internet-Informationen, Sprach- und Ausbildungs- bzw. Kenntnisbarrieren, Entfremdung), Ökologie (u.a. "Elektrosmog") und Gesundheit (soziale Isolation, insbes. im ländlichen Raum, Schäden durch Bildschirmarbeit, Suchtpotenzial) zuzuordnen.
Potenziale und empirisch begründete Perspektiven
Der Nutzungsumfang der Internetdienste nimmt weltweit zu. Die Wachstumsraten sind dabei enorm hoch. Nutzten nach einer Schätzung von EITO (European Information Technoglogie Observatory; www.eito.com) 1997 noch lediglich 7 % der europäischen Bevölkerung das Internet, so wird dieser Anteil bis 2002 auf 23 % steigen. Zwei Entwicklungen deuten an, dass dieser Trend anhält: 1) Die Entwicklung in den USA ist bereits deutlich weiter fortgeschritten: 1997 nutzten dort bereits 22 % der Bevölkerung das Internet, für 2002 werden 42 % erwartet. 2) Die Altersverteilung weist nach einer Untersuchung von Comcult (www.comcult.de) nach, dass die Gruppe der 30-39jährigen Internetnutzer im Vergleich zu früheren Untersuchungen deutlich angestiegen ist, wodurch auch die Entwicklung der Alterspyramide die Internetnutzung erhöhen wird.
Der EDV-Einsatz in der Landwirtschaft hat in größerem Umfang bereits vor zehn Jahren begonnen und hat durch die zunehmende Bedeutung der Internet-Dienste in jüngster Vergangenheit zusätzlich einen positiven Impuls erfahren. Dies zeigen u.a. die Ergebnisse einer Befragung, die im Frühsommer 2000 bei 483 Ausbildungsbetrieben in Baden-Württemberg durchgeführt wurde (DOLUSCHITZ und PAPE, 2001 a und b). Der Anteil der Internet-Zugänge ist bereits heute sehr hoch, wurde schwerpunktmäßig in den letzten Jahren etabliert und wird weiterhin kurzfristig erhöht. Die Nutzung des Internet wird von der Informationsversorgung (vor allem zeitsensitive Informationen wie Wetter, Marktdaten, Fachpresse), der Kommunikation (v.a. E-Mail), z.T. der Geschäftsabwicklung (v.a. Bankgeschäfte und Meldungen zum HIT) und mit weitem Abstand der Unternehmenspräsentation (v. a. allgemeine Betriebsvorstellung) dominiert. Die Umsatzanteile der Geschäftsabwicklung über das Internet sind allerdings noch gering. Eindeutig ist hingegen der künftige Trend: Über zwei Drittel derjenigen, die derzeit das Internet zur Geschäftsabwicklung nutzen, geben an, diesen Anteil künftig ausdehnen zu wollen. Die Effektivität der Internet-Nutzung wird dabei höher als diejenige herkömmlicher Medien bzw. Bahnen und Formen der Geschäftsabwicklung eingeschätzt. Ein ganz ähnliches Bild ergab sich für den Bereich der agrargewerblichen Wirtschaft (DOLUSCHITZ und PAPE, 2001c; HELBIG, 2001).
Fazit und offene Fragen
Trotz eines durchaus positiven Saldos, den man aus der Gegenüberstellung von Chancen und Risiken ziehen könnte, deuten die Entwicklungen in der Realität an, dass es noch geraume Zeit dauern wird, bis der Landwirt, der seine Äcker und Tiere monatelang gepflegt hat, seine Produkte per Mausklick in Sekundenschnelle an einen anonymen Marktpartner verkaufen wird. Zu groß ist wohl die Kluft zwischen der von ganzheitlich ökologischem Denken, Naturverbundenheit und Menschlichkeit geprägten Landwirtschaft und einer über das Internet schnell, unpersönlich, maschinell, allein an Preisen und Umsätzen orientierten Geschäftsabwicklung.
Dennoch darf eine vorsichtig positive Prognose gewagt und es darf berechtigt davon ausgegangen werden, dass im E-Business von den Anfangsfehlern gelernt und im Zuge einer fundierten und wissenschaftlich begleiteten Reflektion und Konsolidierung die Online-Shops der zweiten Generation den realen Bedingungen näher gerückt sein werden. Dabei wird es wahrscheinlich notwendig sein, unter Absenkung des ursprünglich in das E-Business gesetzten Anspruchsniveaus einen Schritt zurückzutreten und den Ursprungsfunktionen des Internet, insbesondere der Informations- und Kommunikationsfunktion, vorrangig Rechnung zu tragen, bevor an die eigentlichen Kernfunktionen des Business gedacht wird.

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Prof. Dr. REINER DOLUSCHITZ, Fachgebiet Agrarinformatik und Unternehmensführung, Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre (410 A), Universität Hohenheim, D-70593 Stuttgart, Telefon: (0711) 459-2841, Telefax: 459-3481 (E-Mail: agrarinf@uni-hohenheim.de)
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