Die Neue Handelstheorie: Stiefkind der Agrarökonomie?
– Einige Anwendungen für den Zuckermarkt –

Harald von Witzke

Published: 24.10.2003  〉 Jahrgang 52 (2003), Heft 7 (von 8)  〉 Resort: Article  〉  Deutsch
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N. A.

ABSTRACT

Die neoklassische Handelstheorie erfreut sich in der agrarökonomischen Forschung großer Popularität. Und dies ist sicherlich zu Recht der Fall. Zum einen lässt sich mit ihrer Hilfe ein großer Teil dessen erklären, was an Handelsströmen des Agrar- und Ernährungsbereichs beobachtet werden kann. Zum anderen lassen sich mit Hilfe dieser Theorie handelpolitische Interventionen in ihren Auswirkungen auf internationale Handelsströme sowohl theoretisch als auch empirisch ohne große Probleme analysieren. Und schließlich lassen sich auf der Basis der neoklassischen Handelstheorie einfache und klare politische Handlungsempfehlungen ableiten. Freihandel repräsentiert das gesamtwirtschaftliche Optimum. Jede Abweichung vom Freihandelsszenario repräsentiert einen Wohlfahrtsverlust und jede Annäherung an dieses einen Wohlfahrtsgewinn.

Einige Ausnahmen sind allerdings zu beachten. Dieses ist der Fall, wenn ein Land "groß" im Sinne der Handelstheorie ist. In einem solchen Fall kann die Einführung eines Importzolls einen Wohlfahrtsgewinn auf dem Markt, auf dem der Zoll erhoben wird, zur Folge haben. Das Ergebnis gilt allerdings nur bei partialanalytischer und der für die neoklassische Handelstheorie üblichen komparativ-statischen Analyse.

Wenn auf einem Markt mehr als nur eine Verzerrung existiert, führt eine Annäherung an Freihandel ebenfalls nicht notwendigerweise zu einem Wohlfahrtsgewinn. Ein Beispiel hierfür ist der EU Milchmarkt. Auf diesem existieren zumindest zwei durch staatliche Markteingriffe verursachte Verzerrungen der ökonomischen Anreize. Zum einen liegt der Erzeugerpreis über dem Marktpreis. Und zum anderen wird die angebotene Menge durch eine Produktionsquote begrenzt. Würde die Quote abgeschafft, so hätte man eine der beiden Verzerrungen beseitigt. Dies könnte sicherlich als ein Schritt in Richtung Marktliberalisierung angesehen werden. Die soziale Wohlfahrt würde indes zurückgehen.

Die neoklassische Handelstheorie basiert auf den Annahmen des vollkommenen Wettbewerbs, und sie leistet wichtige Beiträge zum Verständnis von Phänomenen des internationalen Handels von Gütern. Sie stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn eine oder mehrere Bedingungen des vollkommenen Wettbewerbs nicht erfüllt sind oder wenn die internationale Mobilität von Produktionsfaktoren analysiert werden soll.

Die neue Handelstheorie spielt in der agrarökonomischen Forschung oft noch eine untergeordnete Rolle. Dies ist noch stärker der Fall, wenn es um Politikempfehlungen geht. Die Gründe für letzteres sind sicherlich verständlich. Zum einen sind die aus der Neuen Handelstheorie sich ergebenden wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen nicht immer ganz so eindeutig, wie dieses bei der neoklassischen Handelstheorie der Fall ist. Zum anderen bestehen die Handlungsempfehlungen nicht selten darin, dass staatliche Markteingriffe vorzunehmen sind, um die soziale Wohlfahrt zu maximieren. Die wissenschaftliche Agrarökonomie ist in dieser Hinsicht bekanntermaßen sehr zurückhaltend. Dieses liegt wohl auch daran, dass die Erfahrung gezeigt hat, dass wirtschaftspolitische Eingriffe von der Politik dann oft doch nicht in der von der Wissenschaft vorgeschlagenen Weise vorgenommen werden.

Am Beispiel des Marktes für Zucker können einige der Aussagen der Neuen Handelstheorie veranschaulicht, und die daraus resultierenden handelspolitischen Entscheidungsempfehlungen exemplifiziert werden.
Brasilien ist ein bedeutendes Zucker erzeugendes Land. Aus handelsökonomischer Sicht ist Brasilien ein großes Land. Veränderungen von heimischer Produktion und/oder Verbrauch weisen einen Einfluss auf den Weltmarktpreis auf.

Die Anbaufläche von Zuckerrohr in Brasilien hat sich in den letzten 30 Jahren verdreifacht, während sich die Produktion vervierfacht hat. Die von Brasilien exportierte Zuckermenge versechsfachte sich in diesem Zeitraum. Brasilien ist daher jetzt bei weitem der wichtigste Zuckerexporteur der Welt. Die von Brasilien exportierte Zuckermenge ist etwa dreimal so hoch wie der Nettozuckerexport der Europäischen Union.

Der Anbau von Zuckerrohr erfordert relativ viel Wasser. Die Ausdehnung der brasilianischen Zuckerrohrflächen fand daher vor allem in Gebieten mit hohem Niederschlag statt. Dies ging auch zu Lasten des Regenwaldes und anderer natürlicher bzw. naturnaher Habitate. Die Zuckerproduktion Brasiliens verursacht also negative Externalitäten. Zur Maximierung der sozialen Wohlfahrt wäre daher eine Besteuerung der Zuckerproduktion erforderlich. Die brasilianische Regierung tut indes das Gegenteil. Sie subventioniert durch das Proalcool Programm die Produktion von Zuckerrohr. Aus beiden Gründen ist die Zuckerproduktion von Brasilien höher als für ein Wohlfahrtsmaximum notwendig ist und der Weltmarktpreis niedriger.

In Abwesenheit von Markteingriffen anderer Länder wäre die Zuckerproduktion außerhalb Brasiliens daher geringer, als die aus wohlfahrtstheoretischer Sicht optimale Produktionsmenge. Wenn nun Brasilien nicht dazu bewegt werden kann, die Subventionierung der Zuckerproduktion aufzugeben und die externen Kosten derselben zu internalisieren (z.B. durch eine Besteuerung der Zuckerproduktion), ergibt sich als wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung im Sinne einer sog. zweitbesten Lösung eine Subventionierung der Zuckerproduktion in allen anderen Ländern. Insofern lässt sich im Prinzip eine staatliche Förderung der Zuckerproduktion, wie sie etwa von den USA oder der EU betrieben wird, rechtfertigen. Über die angemessene Form und Höhe einer solchen zweitbesten Subvention lässt sich anhand einer theoretischen Analyse indes keine Aussage treffen. Hierzu bedarf es empirischer Analysen.

Auch öffentliche Güter sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für Umwelt-, Sozial-, Tierschutz-, Nahrungsgüter- und andere Qualitätsstandards. Im neoklassischen Modell spielen öffentliche Güter keine Rolle. Eine Situation ohne Standards determiniert das soziale Wohlfahrtsmaximum.

Standards weisen üblicherweise Allokationswirkungen auf. Die Einhaltung von Standards erfordert Ressourcen. Selbst wenn keine nationalen Unterschiede in den Standards existieren, können diese Auswirkungen auf die internationalen Handelsströme haben und zwar immer dann, wenn komparative Kostenunterschiede zwischen Ländern in der Erfüllung der Standards existieren. Die Einhaltung von Qualitätsstandards in der Agrar- und Ernährungswirtschaft ist meist sowohl kapital- als auch humankapitalintensiv. Sowohl Sachkapital als auch Humankapital sind in den reichen Ländern der Welt relativ reichlich vorhanden, während beide in Entwicklungsländern relativ knapp und damit teuer sind. Als Folge davon verändern sich die komparativen Kostenunterschiede in der Agrar- und Ernährungswirtschaft zu Gunsten der reichen Länder.

Sofern keine nationalen Unterschiede in den Standards existieren, ist die Situation mit Standards Pareto-superior zu einer ohne Standards, denn die Standards repräsentieren öffentliche Güter, die einen Nutzen stiften. Schwieriger gestaltet sich die Analyse dagegen, wenn nationale Unterschiede in der jeweiligen nationalen Wertschätzung von Standards existieren und diese sich in national unterschiedliche Standards niederschlagen.

Die Wohlfahrtswirkungen von Standards hängen dann u.a. auch davon ab, ob Substandardgüter vom heimischen Markt ferngehalten werden können (WTO-Regeln) oder ob internationale Nutzeninterdependenzen bestehen, wie dies bei den Versuchen der Durchsetzung heimischer Tierschutz-, Sozial- oder Umweltstandards in den Drittländern der Fall zu sein scheint. Jedenfalls können Unterschiede in staatlichen Standards Kompensation der Produzenten in Ländern mit hohen Qualitätsanforderungen aus wohlfahrtsökonomischer Sicht rechtfertigen.

Wie zu zeigen versucht wurde, kann die Neue Handelstheorie weitergehendere Einsichten in Probleme des internationalen Handels und der Handelspolitik vermitteln als die neoklassische Theorie. Allerdings reichen theoretische Überlegungen allein oft nicht aus, um zu eindeutigen Aussagen zu gelangen. Für die problemorientierte und empirische agrarökonomische Forderung sollte die Neue Handelstheorie daher ein fruchtbares Arbeitsgebiet darstellen.

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PROF. DR. DR. H.C. HARALD VON WITZKE
Humboldt-Universität zu Berlin, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät, Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus,
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