Der Markt für Öko-Lebensmittel – Ein lohnenswertes Betätigungsfeld für Marktforscher und Marketing-Experten

ULRICH HAMM

Published: 01.08.2000  〉 Heft 8/2000  〉 Resort: Article  〉  Deutsch
Submitted: N. A.   〉 Feedback to authors after first review: N. A.   〉 Accepted: N. A.
DOI:
N. A.

ABSTRACT

Es gibt wohl kaum einen Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft, über den so viele widersprüchliche Markteinschätzungen im Umlauf sind, wie über den Markt für Produkte des ökologischen Landbaus. So reicht die Spannbreite der Angaben über den Marktanteil für Öko-Lebensmittel am gesamten Lebensmittelmarkt in Westeuropa von weniger als 0,5 bis zu mehr als 2 % und in Deutschland von weniger als einem bis zu 2,5 %. Verantwortlich für die sehr unterschiedlichen Markteinschätzungen ist das weitgehende Fehlen statistischer Daten über gehandelte Mengen und Preise auf allen Ebenen von der Landwirtschaft bis zum Einzelhandel. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass zwar in zahlreichen europäischen Staaten umfangreiche staatliche Programme zur Förderung des Angebotes und vereinzelt auch zur Förderung der Vermarktung von Produkten des ökologischen Landbaus geschaffen wurden, dass aber kaum Anstrengungen unternommen wurden, die beträchtlichen Informationsdefizite über diesen Markt abzubauen. Ohne solide (Markt-)Informationen lässt sich aber keine zielgerichtete Politik betreiben bzw. begründen!

Zur Schaffung einer soliden Datenbasis gibt es zahlreiche Ansatzpunkte. Am besten sind die Möglichkeiten für eine mengenmäßige Datenerfassung in der EU auf der Erzeugungsstufe und bei den Importen aus Drittländern. Nach Artikel 8 der EG-Verordnung über den ökologischen Landbau (EG-VO 2092/91) müssen alle Unternehmen, die Produkte des ökologischen Landbaus mit dem Ziel der Vermarktung innerhalb der EU erzeugen, aufbereiten oder aus einem Drittland einführen, diese Tätigkeit einer zuständigen Behörde des EU-Staates melden und sich einem genau definierten Kontrollverfahren unterwerfen. In diesem Kontrollverfahren werden Wareneingang bzw. Warenerzeugung, Warenausgang und innerbetriebliche Warenflüsse mengenmäßig vollständig erfasst. In Deutschland fallen diese Daten in privaten Kontrollstellen an, denen die staatliche Aufgabe der Kontrolle von den dafür zuständigen Bundesländern übertragen wurde. Allerdings gibt es bislang weder in Deutschland noch auf EU-Ebene eine Verpflichtung für die Kontrollstellen, die erfassten Produktmengen an nationale oder EU-Stellen weiterzumelden. Eine solche Verpflichtung könnte einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung der mengenmäßigen Markttransparenz leisten und sollte daher dringend von staatlicher Seite in Angriff genommen werden.

Sehr viel schwieriger ist die Erlangung von soliden Marktdaten auf der Verbraucherseite. Da keine abgesicherten Daten darüber vorliegen, welche Anteile der Öko-Produktion tatsächlich auch als Öko-Produkte vermarktet werden und welchen Umfang der Handel zwischen EU-Ländern einnimmt, können nationale Verbrauchsstatistiken nicht erstellt werden. Daten über den Verbrauch von Öko-Lebensmitteln könnten über Panelerhebungen (z. B. über repräsentative Haushalts- und Großverbraucherpanels oder über Handelspanels) erhoben werden, doch setzt dieses eine eindeutige Identifizierung von Öko-Produkten voraus. Angesichts einer atomisierten Anbieterstruktur ist aber selbst die Erfassung von Europäischen Artikelnummern für verpackte Lebensmittel über das EAN-Code-System ein äußerst schwieriges und zeitraubendes Unterfangen, wie ein erstes Versuchsprojekt von CMA und ZMP unter Mitwirkung des Autors zeigt. Daten über Einzelhandels- bzw. Verbraucherpreise für Öko-Produkte könnten ebenfalls über Panelerhebungen gewonnen werden.

Für Deutschland liegen dagegen relativ gute, von der ZMP erhobene Daten über Erzeugerpreise für die wichtigsten pflanzlichen Öko-Produkte getrennt nach Absatzwegen vor. Mit diesen Daten steht ein in vielen anderen EU-Staaten nicht vorhandenes Material zur Verfügung, das wertvolle Aufschlüsse über Preis- und damit indirekt auch Marktentwicklungen auf der Erzeugerstufe liefert. Mehrere Versuche der ZMP, die freiwilligen Meldungen von Öko-Betrieben auch auf tierische Produkte auszudehnen, waren dagegen bislang nicht von Erfolg gekrönt.

Solange keine breit abgesicherten statistischen Daten über den Öko-Markt existieren, gleichen die Bemühungen, sich einen Marktüberblick zu verschaffen, einem Puzzle - es geht um das Zusammenfügen einer Vielzahl von Einzelinformationen zu einem in sich stimmigen Gesamtbild. In wenigen europäischen Ländern lassen Statistiken von einzelnen ökologischen Anbauverbänden Rückschlüsse auf produzierte, in der Regel aber nicht auf vermarktete Mengen zu. Weitere marktrelevante Daten lassen sich entweder durch Befragungen der Wirtschaftssubjekte direkt (Landwirte, Erzeugerzusammenschlüsse, Verarbeitungs- und Handelsunternehmen) oder indirekt über Auskünfte von Kontrollstellen, Verbänden, Beratungs- oder Marktforschungsunternehmen gewinnen. Die Ergebnisse von Verbraucherbefragungen, in die häufig auch Fragen über eingekaufte Mengen oder getätigte Ausgaben für Öko-Lebensmittel eingebaut werden, sind dagegen nur mit großen Einschränkungen geeignet, um aus diesen Angaben Rückschlüsse über Entwicklungen auf dem Öko-Markt zu ziehen. In der Regel verleiten die Ergebnisse zu einer gewaltigen Überschätzung der tatsächlich eingekauften Mengen, da die Mehrzahl der Verbraucher insbesondere in Deutschland Öko-Lebensmittel nicht eindeutig identifizieren kann (und viele Produkte, die nach der EG-VO 2092/91 keine Öko-Produkte sind, mit einrechnet) und da in solchen Befragungen häufig das sozial oder individuell (für sich) erwünschte, nicht aber das tatsächliche Einkaufsverhalten angegeben wird. Schließlich dürfte auch fast jeder Verbraucher mit Fragen nach der Quantifizierung von in der letzten Woche oder gar im letzten Monat eingekauften Öko-Lebensmitteln vollkommen überfordert sein.

So bietet denn auch die bislang am breitesten angelegte und im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes erstellte Studie über den Markt für Öko-Lebensmittel (vgl. MICHELSEN et al., 1999) nur einen ersten Einblick in die Marktgegebenheiten und -entwicklungen in Westeuropa. Bezogen auf die Frage, wie sich der deutsche Markt für Öko-Produkte im Vergleich zu anderen wichtigen europäischen Ländern entwickelt hat, lassen sich aus den Ergebnissen der Studie aber einige interessante Ergebnisse ablesen:

o Nach Zeiten eines stürmischen Angebotswachstums Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre als Folge der Gewährung von Umstellungsprämien im Rahmen des EG-Extensivierungsprogramms ist die Öko-Anbaufläche in Deutschland in der zweiten Hälfte der 90er Jahre - und damit das Angebot - wesentlich schwächer ausgedehnt worden als in den meisten anderen europäischen Ländern. Gemessen am Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche an der gesamten LF ist Deutschland mit weniger als 3 % in 1999 von Österreich (8,4 %), der Schweiz (7,5 %), Dänemark (6,0 %), Italien (5,3 %) und Schweden (4,5 %) weit überholt worden (RIPPIN, 2000).

o Der Verbrauch von Öko-Lebensmitteln ist in Deutschland in den 90er Jahren ebenfalls sehr viel schwächer gestiegen als in anderen EU-Ländern. Dies erstaunt insbesondere deswegen, weil das Gesundheitsbewusstsein (bzw. die Verunsicherung der Verbraucher nach sogenannten Lebensmittelskandalen gepaart mit der Ablehnung der Verwendung gentechnischer Verfahren in der Lebensmittelherstellung) sowie das Umweltbewusstsein der Bevölkerung als tragende Säulen der Nachfrage von Öko-Lebensmitteln in Deutschland nach wie vor vergleichsweise stark ausgeprägt sind.

o Der Hauptgrund für das relativ schwache Angebots- und Nachfragewachstum in Deutschland dürfte auf zahlreiche Unzulänglichkeiten in der Vermarktung von Öko-Lebensmitteln zurückzuführen sein. Dies wird insbesondere bei einem Vergleich mit anderen Ländern ersichtlich. Ein wesentliches Problem in Deutschland ist darin zu sehen, dass Öko-Lebensmittel nicht vorwiegend dort angeboten werden, wo sie die Masse der Verbraucher einzukaufen wünscht, im allgemeinen Lebensmittelhandel. Und wenn Öko-Lebensmittel dort angeboten werden, findet die Mehrzahl der Verbraucher die Produkte nicht, weil große Anbieter und Handelsunternehmen die Produkte nicht wie im Ausland massiv bewerben und weil es in Deutschland kein einheitliches, den Verbrauchern bekanntes Dachwarenzeichen gibt, anhand dessen interessierte Verbraucher die Produkte eindeutig identifizieren können. Da auch der Preisabstand von Öko-Produkten zu konventionellen Lebensmitteln aufgrund zahlreicher Unzulänglichkeiten in der Vermarktungskette deutlich höher als in fast allen anderen europäischen Ländern ist, kann es nicht verwundern, dass deutsche Verbraucher zwar immer wieder großes Interesse am Einkauf von Öko-Lebensmitteln bekunden, dieses aber nicht in ihren täglichen Einkaufsentscheidungen umsetzen.

Diese Unzulänglichkeiten gehen einher mit einer laufenden Überschätzung des tatsächlichen Marktanteils, den Öko-Lebensmittel am gesamten Lebensmittelmarkt in Deutschland einnehmen. Durch Doppelzählungen von Umsätzen (z. B. werden Umsätze von Hofläden oder Wochenmarktständen teilweise auch in den Umsätzen des Naturkosthandels mit erfasst), durch eine Überschätzung der Umsätze des allgemeinen Lebensmittelhandels und durch die Verwendung falscher Bezugsgrößen für die Bemessung des Anteils am Gesamtmarkt (Bemessungsgrundlage sind häufig nur die Umsätze des organisierten Lebensmitteleinzelhandels in Höhe von knapp 250 Mrd. DM) sind veröffentlichte Werte von 6 Mrd. DM Umsatz mit Öko-Lebensmitteln bzw. einem Anteil am Gesamtmarkt von 2,5 % für 1999 als stark überhöht anzusehen. Tatsächlich dürften die Umsätze bei rund 4 Mrd. DM in Deutschland liegen, was einem Marktanteil von wenig mehr als 1 % der Lebensmitteleinkäufe von Privat-Haushalten (ohne Außer-Haus-Verpflegung) in Höhe von 350 Mrd. DM entspricht.

Wie die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen, kommt dem allgemeinen Lebensmittelhandel eine Schlüsselrolle für die weitere Erschließung des Nachfragepotenzials und damit für die Erhöhung des Marktanteils von Öko-Lebensmitteln zu. Solange die Zentralen des allgemeinen Lebensmittelhandels in Deutschland nur den Preis als Profilierungsinstrument im Wettbewerb einsetzen und keine größeren Anstrengungen unternehmen, ihre Eigenmarken für Öko-Produkte über größere Werbekampagnen Verbrauchern bekannt zu machen und sich über eine Ausweitung eines entsprechenden Angebots zu profilieren, wird sich der Gesamtmarkt nur schwerlich mit zweistelligen jährlichen Wachstumsraten ausdehnen wie in Dänemark und der Schweiz (seit 1993), Österreich (seit 1994), Schweden und Belgien (seit 1997), Großbritannien und Frankreich (seit 1998).

Auf der anderen Seite ist aber auch festzustellen, dass die Produktions-, Erfassungs- und Verarbeitungsstrukturen in Deutschland nur wenig geeignet sind, Bedürfnisse von Großabnehmern zu erfüllen. Durch die künstliche Zersplitterung des deutschen Angebotes durch zu viele Anbauverbände mit eigenen Richtlinien und Warenzeichen, die ungenügende Zusammenfassung des Angebotes über viele kleine Erzeugergemeinschaften und die in vielen relativ kleinen Unternehmen angesiedelte Verarbeitung sind große Partien von Öko-Produkten in einheitlichen Qualitäten aus Deutschland kaum zu beziehen. Hinzu kommt noch, dass das zersplitterte Angebot zu entsprechend hohen Vermarktungskosten führt, die zu Lasten von Erzeugern und Abnehmern gehen.

Es ist zu befürchten, dass sich die unzureichenden Vermarktungsstrukturen in Deutschland angesichts der starken Ausdehnung des Öko-Landbaus und der zielgerichteten Schaffung großer Vermarktungsstrukturen in anderen Ländern mittelfristig als klarer Wettbewerbsnachteil für deutsche Öko-Anbieter erweisen werden. In Dänemark, Schweden und den Niederlanden werden zur Zeit insbesondere im tierischen Bereich zielgerichtet Vermarktungsketten aufgebaut, die über eine vertragliche Anbindung der Öko-Landwirte an große Verarbeitungsunternehmen sehr große Partien einheitlicher Qualitäten anbieten können. Wenn wie in Dänemark, Österreich oder der Schweiz in führenden Handelsketten in einzelnen Produktkategorien (z. B. Trinkmilch, Jogurt, Möhren, Kartoffeln) schon 10 % bis teilweise mehr als 20 % der Umsätze auf Öko-Produkte entfallen, dann müssen hierfür auch im vorgelagerten Bereich entsprechende Strukturen geschaffen werden. Davon ist man in Deutschland jedoch weit entfernt. So erfasst z.B. das größte dänische Molkereiunternehmen MD FOODS, das vor kurzem mit dem größten schwedischen Molkereiunternehmen ARLA fusionierte, allein in Dänemark eine fünf Mal so große Öko-Milchmenge wie die größte Öko-Molkerei in Deutschland. Noch sehr viel größer sind die Unterschiede zwischen beiden Ländern bei der Erfassung von Schlachtschweinen aus ökologischer Erzeugung. Es ist davon auszugehen, dass die europäischen Länder, in denen der entscheidende Engpassfaktor Vermarktung am schnellsten beseitigt wird, einen großen Schritt zur Gewinnung und Sicherung von Marktanteilen in dem stark wachsenden Markt für Lebensmittel aus ökologischem Landbau machen werden. Vieles deutet darauf hin, dass in Deutschland die Zeichen der Zeit nicht erkannt worden sind und dass der ausgeprägte Hang zum Individualismus in Landwirtschaft und Ernährungsindustrie zu weiteren Marktanteilsverlusten auf dem Öko-Lebensmittelmarkt führen wird.

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Prof. Dr. ULRICH HAMM, Fachhochschule Neubrandenburg, Postfach 110121, D-17041 Neubrandenburg.
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