Auf der Suche nach dem europäischen Modell

MARTIN WILLE

Published: 01.06.1999  〉 Heft 6/1999  〉 Resort: Article  〉  Deutsch
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N. A.

ABSTRACT

Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben Ende März 1999 in Berlin unter politisch schwierigen Umständen - die Kommission war gerade zurückgetreten und außenpolitisch war über den NATO-Einsatz auf dem Balkan zu entscheiden - Einigung über das Gesamtpaket der Agenda 2000 erzielt. Dabei muß man sich noch einmal in Erinnerung rufen, daß es um viel ging, nämlich um den Finanzrahmen der EU für den 7-Jahres-Zeitraum 2000 bis 2006 im Umfang von 1,3 Billionen DM, um die Reform der Agrarpolitik, um die Neuausrichtung der Strukturfonds und schließlich um die Neuausrichtung des Eigenmittelsystems bei Berücksichtigung der Beitragskapazität der Mitgliedstaaten. Da Einstimmigkeit erforderlich war, und es in Berlin entgegen der Absicht von 14 Mitgliedstaaten nicht gelang, das von den Landwirtschaftsministern am II. März 1999 mit Mehrheit beschlossene Agrarpaket nicht mehr aufzuschnüren, wurde die Reform der Agrarpolitik Teil des Verhandlungspokers bei den Staats- und Regierungschefs. Die Ergebnisse sind bekannt. Besonders kritisch ist die Verschiebung der Milchmarktreform zu sehen, die nunmehr mit dreistufigem Abbau der Stützpreise und Einkommensausgleich erst zum Milchwirtschaftsjahr 2005/06 in Kraft treten soll. Das geltende Quotensystem wurde damit faktisch bis 2008 verlängert. Diese Entscheidung führt deshalb zu Unsicherheiten auf dem Milchmarkt, weil mit der schon in den Milchwirtschaftsjahren 2000/01 und 2001/02 beginnenden Quotenaufstockung die Milchquotenregelung weiter ausgehöhlt wird. Zudem wird mit dem Beschluß des Agrarrates, im Jahre 2003 auf der Grundlage eines Berichts der Kommission eine Halbzeitbewertung mit dem Ziel vorzunehmen, das gegenwärtige Quotensystem nach dem Jahre 2006 auslaufen zu lassen, ein Signal in Richtung Ausstieg gegeben. Europäische Agrarpolitik war immer ein besonders interessantes Feld politischer Ökonomie. Deshalb will ich den Versuch unternehmen, das Geschehen nachzuzeichnen und die Ergebnisse nachvollziehbar zu machen. Zunächst komme ich zu der Einschätzung, daß sich der Rat der Landwirtschaftsminister von der 1997 ergangenen Mitteilung der EU-Kommission "Agenda 2000 - Eine stärkere und erweiterte Union" offensichtlich überfordert fühlte, zumindest aber fehlte die Bereitschaft, sich inhaltlich mit der Zukunft der Agrarpolitik nach dem Jahr 2000 auseinanderzusetzen. So wurde auf der informellen Tagung Anfang September 1997 in Echternach/Luxemburg und in der Agrarratssitzung vom 17./19. November 1997 das "europäische Agrarmodell" geboren, das der Europäische Rat im Dezember 1997 wie folgt zur Kenntnis genommen hat: "Die Union hat den Willen, das derzeitige europäische Landwirtschaftsmodell auch weiterhin zu entwickeln und sich dabei um eine bessere interne und externe Wettbewerbsfähigkeit zu bemühen. Die europäische Landwirtschaft muß ein multifunktionaler, nachhaltiger und wettbewerbsfähiger Wirtschaftssektor sein, der sich auf das gesamte europäische Gebiet, einschließlich der Regionen mit spezifischen Problemen, erstreckt. Der 1992 eingeleitete Reformprozeß muß fortgesetzt, vertieft angepaßt und ergänzt werden ...Die Reform muß dazu führen, daß am Ende Lösungen erreicht werden, die wirtschaftlich vernünftig und tragfähig sowie sozial vertretbar sind, angemessene Erlöse und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den einzelnen Produktionssektoren, Erzeugern und Regionen ermöglichen und Wettbewerbsverzerrungen verhindern. Die für die Durchführung der Gemeinsamen Agrarpolitik erforderlichen Finanzmittel werden auf der Grundlage der Agrarleitlinie bestimmt." Mit diesem Auftrag versehen legte die EU-Kommission im März 1998 die Legislativvorschläge zur Agenda 2000 mit dem Ziel vor, das europäische Agrarmodell für die kommenden Jahre mit konkreten Inhalten zu füllen. Dabei lassen sich die von der Kommission genannten Leitlinien in zwei Punkten bündeln: Einmal Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit durch umfangreiche Preissenkungen, um eine stärkere Beteiligung der europäischen Landwirtschaft an der Entwicklung des Weltmarktes zu gewährleisten - zum anderen: Übernahme neuer gesellschaftlich relevanter Aufgaben für die Agrarpolitik und Entwicklung einer kohärenten Politik für den ländlichen Raum und den Umweltschutz zur 2. Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik. In den Schlußfolgerungen des Rates "Landwirtschaft" für den Europäischen Rat im Dezember 1999 in Wien bestand zwar Einvernehmen darüber, das europäische Agrarmodell zu verwirklichen, in den Sachpunkten aber gab es nach halbjährigen Beratungen über die Agenda- Vorschläge der Kommission unverändert tiefgreifende Meinungsunterschiede. Mit dem Auftrag des Europäischen Rates in Wien und der Übernahme der Präsidentschaft durch Deutschland am 1. Januar 1999 begann die Phase konkreter Sachverhandlungen zum Agrarteil der Agenda. Für die Agrarverhandlungen wurde in Wien folgender Rahmen abgesteckt:- Alle politischen Kernfragen, die der Rat "Landwirtschaft" bis März 1999 nicht lösen kann, werden in das Gesamtpaket für eine endgültige Vereinbarung auf der Tagung des Europäischen Rates vom März 1999 aufgenommen. Damit war klar: Was der Agrarrat nicht löst, wird von den staats- und Regierungschefs entschieden. - Hinsichtlich der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist darauf zu achten, daß Kohärenz zwischen den Zielen und dem Anwendungsbereich der Reform sowie den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln besteht. Im Klartext hieß dies: strikte Haushaltsdisziplin durch reale Konstanz der Ausgaben, was nichts anderes bedeutet, als die Agrarausgaben von 1999 von 40,4 Mrd. Euro über die Finanzperiode bis 2006 festzuschreiben und damit deutlich unter der geltenden Agrarleitlinie zu bleiben. - Unter Bezug auf den Kommissionsbericht über das Funktionieren des Eigenmittelsystems wurde von einigen Mitgliedstaaten die Forderung der Kofinanzierung landwirtschaftlicher Direktzahlungen mit dem Ziel auf den Verhandlungstisch gelegt, auf diesem Wege die für einige Mitgliedstaaten bestehenden Haushaltsungleichgewichte abzubauen. Bereits beim Wiener Gipfel hatten andere Mitgliedstaaten deutlich gemacht, daß eine solche Kofinanzierung ihrer Auffassung nach den Grundprinzipien der Gemeinschaft in der Agrarpolitik zuwiderlaufen würde. Für die deutsche Präsidentschaft ergab sich daraus im Agrarrat folgende Verhandlungslinie: - Verhandlungsgrundlage war der Kommissionsvorschlag; jede davon abweichende Forderung wurde in den Auswirkungen auf den Haushalt quantifiziert. Auf diese Weise wurden von einer "Hochrangigen Gruppe'. Verhandlungsoptionen einschließlich verschiedener Modelle der Degression der Ausgleichszahlungen vorbereitet und dem Rat zur Entscheidung vorgelegt. - Im Rat der Landwirtschaftsminister keine Beratung über die Einführung der Kofinanzierung landwirtschaftlicher Direktzahlungen; anderenfalls drohte ein Mitgliedstaat, die Politik des leeren Stuhls zu praktizieren. Da die Realisierung des Kommissionsvorschlages zu Überschreitungen der neuen Ausgabenleitlinie realer Konstanz geführt hätte und die Kofinanzierung als Finanzierungsquelle aus dem Spiel war, ergab sich aus dem Zwang zum Sparen eine Verhandlungskonstellation mit folgenden Varianten:a) Einsparungen durch Einschränkung oder Verschieben ausgabenwirksamer Reformen. Im Mittelpunkt stand dabei von Beginn an die Milchmarktreform, die gemäß Kommissionsvorschlag zu Mehrausgaben von 8 Mrd. Euro im Zeitraum 2000 bis 2006 geführt hätte.b) Konsequente Reform mit weitergehenden Preissenkungen im Hinblick auf WTO und Osterweiterung; entstehende Mehrausgaben sollten durch Einführung einer zeitlichen Degression bei sämtlichen Direktzahlungen finanziert werden. c) Einführung einer größenabhängigen oder zeitlichen Degression mit dreifacher Zielsetzung: Senkung der Ausgaben, mehr soziale Ausgewogenheit und/oder Umschichtung von Mitteln aus dem Marktbereich in die Bereiche ländliche Entwicklung und Umwelt. In der entscheidenden März-Sitzung des Agrarrates, die mit Unterbrechungen mehrere Tage dauerte, zeigte sich schließlich, daß eine über die Kommissionsvorschläge hinausgehende Agrarreform (Variante b), die bei Milch durch stärkere Preisabsenkung und höhere Quotenaufstockung ein klares Signal für den Ausstieg aus dem Quotensystem gegeben hätte, nicht mehrheitsfähig war. Zudem konnte sich der Rat weder auf eine größenabhängige noch eine zeitliche Degression mit Umschichtung eines Teils der freiwerdenden Mittel in die 2. Säule (Variante c) verständigen, so daß letztendlich der Zwang zur Haushaltsdisziplin zu Abstrichen bei den von der Kommission vorgeschlagenen Reformschritten führte (Variante a). Verlauf und Ergebnis der Agenda-Verhandlungen zur Agrarreform haben gezeigt, daß es höchst unterschiedliche Vorstellungen vom europäischen Agrarmodell gibt. Ohne Kompaß aber ist im Nebel schwer Kurs zu halten. Deshalb stehen Grundsatzfragen zur künftigen Ausrichtung der Agrarpolitik auf der Agenda der europäischen Politik. Im Hinblick auf die bevorstehenden WTO-Verhandlungen sollen drei Problembereiche kurz angesprochen werden: 1. Die in der sogenannten "blue box'. geführten Ausgleichszahlungen der EU werden auf den Prüfstand kommen. Sollte die "blue box" in der gegenwärtigen Form in Frage gestellt werden, was ja keineswegs auszuschließen ist, würden spätestens nach Abschluß der WTO-Runde bzw. nach Auslaufen der in der Uruguay-Runde bis 2003 beschlossenen Friedenspflicht die streitigen Fragen wieder auf dem Verhandlungstisch des Rates liegen: die zeitliche Degressivität und die weitergehende Entkoppelung der Ausgleichszahlungen von der Produktion. 2. Im engen Zusammenhang damit ist zu fragen, wie die Mitgliedstaaten die Horizontale Verordnung umsetzen wollen, ob sie beispielsweise von der Möglichkeit Gebrauch machen, spezifische Umweltvorschriften als Voraussetzung für die Gewährung von Ausgleichszahlungen festzulegen oder ob sie die Vergabe an geltenden Grundsätzen der guten fachlichen Praxis im landwirtschaftlichen Fachrecht ausrichten wollen. Die Verknüpfung von einkommenspolitisch motivierten Ausgleichszahlungen mit umweltpolitischen Zielen (cross compliance) findet in Deutschland, aber auch in anderen EU-Mitgliedstaaten breite gesellschaftliche Akzeptanz. Deshalb muß die Agrarpolitik unabhängig von Ausgang und Ergebnis der WTO- Runde auch innenpolitisch Antwort geben, z.B. darauf, - ob und in welcher Form über die gute fachliche Praxis hinausgehende Mindestanforderungen zum Schutz von Natur und Umwelt festgelegt werden sollen, - wo und wie die Abgrenzung zu freiwilligen Umweltprogrammen erfolgen soll, - welche Wettbewerbswirkungen von einem System ausgehen, bei dem nach Mitgliedstaaten und Regionen unterschiedliche Mindestvoraussetzungen für die Vergabe von Ausgleichszahlungen festgelegt werden, - wie die staatliche Kontrolle und Überwachung organisiert werden soll. 3. Das europäische Agrarmodell hebt auch darauf ab, daß in der EU den Anliegen und Anforderungen der Verbraucher in bezug auf die Qualität und die Sicherheit der Lebensmittel in besonderer Weise Rechnung getragen wird. Damit kann beispielsweise das seit 10 Jahren geltende und jetzt von der WTO in Frage gestellte Einfuhrverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch gerechtfertigt werden. Damit wird aber auch die Forderung verbunden, und zwar in großer Übereinstimmung von Bauern-, Umwelt- und Verbraucherverbänden und zudem niedergelegt in der Vereinbarung der die Bundesregierung tragenden Koalitionsparteien, in einem neuen Welthandelsabkommen sozial-, umwelt- und verbraucherpolitischen Standards festzuschreiben.Der Streit um das Hormonfleisch zeigt, welch politischer Zündstoff in diesen Fragen liegt, und er weist der Wissenschaft eine besondere Rolle zu. Denn nach den in der Uruguay-Runde erstmals beschlossenen Vereinbarungen über die Anwendung von sanitären und phytosanitären (SPS)- Maßnahmen zum Schutz von Mensch, Tier, Pflanzen und Umwelt gilt als Voraussetzung, daß die Maßnahmen wissenschaftlich begründet sein müssen. Die Agenda 2000 ist nach mühseligen und schwierigen Verhandlungen zum Abschluß gebracht worden. Die Beschlüsse sind die Verhandlungsgrundlage für die Europäische Union in den im November beginnenden WTO-Verhandlungen und sie legen wichtige Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft im Zeitraum 2000 bis 2006 fest. Allerdings bleiben wichtige Fragen zur Zukunft des europäischen Agrarmodells in der Diskussion. Bei der Konkretisierung dieses Modells ist auch der Beitrag der Agrarwissenschaft mehr denn je gefragt.

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Dr. MARTIN WILLE, Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
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